1// In der Septuaginta wird der Mittag heimgesucht von Dämonen, die einer Suche gleich um sich greifen, die Seelen träge und kraftlos machen. Bei Pontikos wandelt sich diese Besessenheit von Schwerfälligkeit, Müdigkeit und Nichtstunwollen zur acedia und findet Einzug in den Kreis der christlichen Todsünden. Und vielleicht ist es nicht zufällig – aber vielleicht ist es das auch – dass diese Schwere im Umbruch des Tages, am Mittag, wenn die Zeit selbst auf der Kippe steht, die Endlichen befällt (und mag vielleicht vermuten, auch zu Mitternacht). Und vielleicht ist eben dieser neutrale Punkt zwischen den distinkten Zeiten zurückgekehrt, den die Moderne in Form eines nicht enden wollenden, unendlich ausgedehnten Mittags hatte verbannen wollen; in der neuen Erfahrung einer scheinbar unmöglichen Zeit während der COVID-19-Pandemie. Eine Zeit, in der nichts zu geschehen schien, was eine Spur im Gedächtnis hinterlassen könnte, während die Geschichte sich außerhalb der Isolation in einem unerträglichen Maß beschleunigte. Zwei Bewegungen, die keine einheitliche Zeit mehr ergaben, in die man doch gestellt war und die man nur unter großer Anstrengung in Beziehung halten konnte. Diese Leere des ewigen Mittags füllte nun eine Erschöpfung, die von einer anderen Qualität war als jede psycho-physische Müdigkeit; sie schien eine logische zu sein – vielleicht.
Hingegen scheint nichts so selbstverständlich und unvermeidlich zu sein, wie dass die Erschöpften durch all die abgerungenen Regungen, die Zähigkeit jeder Bewegung und vergebenen Momente hindurch einen und vielleicht einen einzigen klar formulierbaren Wunsch haben: nicht mehr erschöpft zu sein. Jedoch, zwischen den entleerten Horizonten und ausgeschöpften Vergangenheiten – mal unwahrnehmbar, mal überbordend – scheint in seltenen Momenten auch ein anderes Begehren auf: mit der Erschöpfung bis ans Ende zu gehen. Hier, in der Abwesenheit der Möglichkeit einer Zukunft präfiguriert sich vielleicht ein Moment der Öffnung oder eines paradoxen Widerstands, der gerade als absoluter Gegenstoß aus den Bedingungen entsteht, die erschöpfen. Man wird sehen.
2// Ende der 1930er Jahre treffen Cioran und Beckett in Paris relativ zufällig aufeinander. Sie werden sofort Freunde, weil sie zwischen all den geschwätzigen Philosoph*innen, die das Café de Flore bewohnen (Sartre, de Beauvoir, Camus), die einzigen sind, die wissen, wie man nichts sagt. »In Ihren Ruinen fühle ich mich wohl«
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, schreibt Beckett noch 1969 aus Ussy an Cioran. Und Cioran schreibt über Beckett in seinen als Widersprüchliche Konturen veröffentlichten Notizen zur Literatur, dass das von ihm heraufbeschworene »posthumane […] Universum« bevölkert sei von »Wesen, die selbst nicht wissen, ob sie noch leben, Beute einer unermeßlichen Müdigkeit sind, einer Müdigkeit, die nicht von dieser Welt ist (um eine Sprache zu benutzen, die Beckett widerstrebt)«.
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Dieser privaten physiologischen Ermattung korrespondiert eine unpersönliche Leere der Endzeit. Becketts Werke und Welten sind immer schon ›nach‹ der Katastrophe. Und es beschleicht einen der Verdacht, dass seine dahinsterbenden Welten weiterleben werden, uns überleben werden, weil sie ihr Ende schon hinter sich haben und nichts mehr möglich ist. Um das Äußerste zu erreichen, musste Beckett »hier« beginnen, – noch einmal Cioran: »mit dem Unmöglichen, Außergewöhnlichen, dem Ausweglosen.«
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3// Zweifellos hat die Philosophie der Moderne, spätestens seit Spinoza, den Kampf gegen den Geist der Schwere, die traurigen Affekte oder die Erschöpfung im Allgemeinen aufgenommen. Die Erschöpfung ist deswegen vielleicht selbst per se kein philosophischer Affekt, genauso wenig wie ihr Gegenteil, sondern das a priori zu suspendierende, da sie mit dem minimalen vitalistischen Versprechen des Denkens bricht. Selbst Nietzsche bildet in dieser hygienischen Tradition eher einen Höhepunkt als die Ausnahme. Er bevorzugte jene, die noch tanzen und schlafen können, deswegen hatte er, bei allen Ausgestoßenen mit denen man ihn assoziieren kann, niemals Geduld für zwei Gruppen: die Alten und die Neurastheniker.
4// In die materielle Kultur der Moderne schreibt sich die Erschöpfung noch als endemische Unordnung der Ermattung ein, als Widerstand des Körpers, der auf die Anforderungen der industriellen Produktion mit Aussetzern reagiert und dessen Verlust an Frische, Spannung und Aktivität akribisch in einer neuen Ermüdungswissenschaft dokumentiert wird (z.B. Dürings Die Theorie der Ermüdung [1927]). Bald aber, so stellt George Miller Beard in American Nervousness 1881 fest, scheinen Phasen manischer Arbeit und Anspannung nur noch sporadisch die entropische Müdigkeit und die Neurasthenie zu unterbrechen, die bereits der Normalzustand geworden sind.
Die Aufgabenstellung ist daher entsprechend vertrackt. Angesichts der historischen Gegebenheit der Erschöpfung, aber der kategorischen Unmöglichkeit aus ihr heraus zu denken, stellt sich die Frage: Was nun mit unserer Erschöpfung anfangen?
5// Noch jede Epoche, so zeigt Anna Katharina Schaffner eindrucksvoll in ihrer Geschichte der Erschöpfung, hielt sich für die Erschöpfteste.
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Und vielleicht ist es auch nicht die Intensität, sondern der spezifische Modus, die Erschöpfung als Grundtonalität, die unsere Zeit auszeichnet. Die affektive Ökonomie der Erschöpfung in der Kontrollgesellschaft, in der die glatten Räume die gekerbten der Disziplinargesellschaft abgelöst haben, lässt zunehmend die Grenzen und Hierarchien der physischen Ausbeutung durch Arbeit verschwimmen. Die Transformation der Seele in ein Unternehmen hat die Herr/Knecht-Dialektik samt ihrer materiellen Korrelate internalisiert. Operierten die Disziplinargesellschaften noch über die Verbote und Hervorbringung bestimmter Kommunikation, so haben die Telekommunikationstechnologien der Kontrollgesellschaften diese Regulation zur Steigerung der Produktivität ins Unendliche eliminiert. Man ist immer und überall, zumindest potentiell, über das Handy oder per Mail zu erreichen. Der Arbeitsplatz hat sich auf ›überall‹ ausgedehnt, wie wir gerade alle besonders spüren. Das Persönliche ist Arbeit und die Arbeit ist persönlich. Wie Deleuze in Kontrolle und Werden Negri erklärt, leiden wir nicht an zu wenig, sondern zu viel Kommunikation.
Sie ermüdet uns und zieht das Feld des Möglichen noch dichter zusammen.
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6// Es gab eine Zeit, so scheint es, wo man sich auf die exzessive Kraft der schizophrenen Tendenzen des Begehrens als Widerstand verlassen wollte. Man sagte sich: ›Werde deinen Ödipus los, löse dich von der paternalen Norm und du wirst endlich frei sein (und vielleicht sogar glücklich)‹. Und selbst wenn die Texte dieser Zeit (der 1970er) diese Lesart provozierten, zumindest aber legitimierten, hatte man es sich wohl zu leicht gemacht. Für Reich bestand der Faschismus noch in einer vehementen Unterdrückung der psycho-sexuellen Energien. Anschließend daran war für Deleuze und Guattari der Kapitalismus in der ständigen Produktion und im produziert werden begriffen, der kontinuierlichen Deterritorialisierung der Libido und der Desorientierung der Triebe durch die schizophrenen Energien des Begehrens, die er versucht für sich zu reterritorialisieren. Diese Wunsch-Maschinen gelte es zu befreien und ihre Kraft anzuzapfen. Aber heute sind diese Kräfte erschöpft, einerseits zerrieben zwischen den realen Antagonismen, deren Existenz man vehement verleugnete und anderseits zerstört, indem man die überbordenden schizophrenen Flüsse des anorganischen Lebens ungebremst auf den zerbrechlichen organischen Menschenkörper losließ. Und so kann man die Bewegung des Sozialen nicht mehr durch die Eruption, sondern nur noch durch die Erschöpfung der Kräfte beschreiben, für die ein Ersatz (im psychoanalytischen Sinne) gefunden werden muss. Vielleicht bildet diese Kraftlosigkeit im Herzen der frenetischen Geschäftigkeit den traumatischen Kern unserer Gegenwart, zu dem man sich nur durch Verleugnung und Abwehr verhalten kann. So sind auch die auto-phagischen Tendenzen der Gegenwart, die immensen Ausbrüche von archaischer Gewalt möglicherweise unter anderem eine verzweifelte Abwehr gegen die Impotenz, die diese Leere erzeugt. Ödnis und Langeweile gehören wahrscheinlich zu den noch unterschätztesten Triebfedern der Gewalt in der Geschichte.
Wie Jameson und Fisher gezeigt haben, wird diese Ermüdung von einer reflexiven Impotenz begleitet, unterfüttert, verstärkt, welche nicht zuletzt zu der Dämpfung des Affekts führt, die für die Postmoderne typisch ist.
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War Margret Thatchers »There is no alternative [to capitalism]!« noch in einem präferenziellen Sinne gemeint, so hat sich die These längst in eine ontologische verkehrt. Nach dem Wegfallen jeder dialektischen Opposition, so Jameson, scheint die Zukunft aufgehört zu haben und sich die Realität in einer unerträglichen Gegenwart des Endes der Geschichte zusammengezogen zu haben. Untote Zeit. Ein Zombie-Kapitalismus.
7// Hier sind wir bei Adornos Beckett angelangt, welcher letzteren als »Realisten« liest, als einen der die Realität nach der Katastrophe der verwalteten Welt deutet: »Der Weltuntergang ist diskontiert, als wäre er selbstverständlich«.
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Becketts technische Reduktion bis aufs Äußerste verdoppelt die ›Stümpfe von Menschen‹ der verwalteten Welt, gemäß der romantischen Idee: ›So wüst und leer wie die Welt, sind die Seelen deren, die darin leben müssen.‹ Gerade durch die barocke Verweigerung der Auflösung und die Hermetik des Werkes, »das Schwarze«
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für das Adorno Beckett in der Ästhetischen Theorie so preist, ist das, wodurch die negative Soteriologie, das uneingelöste Versprechen nach Versöhnung noch aufrechterhalten wird.
Vielleicht hätte man jedoch mit diesem Versprechen beginnen sollen; dem Versprechen der Zukunft. So hat die Moderne begonnen. Das noch abwesende Objekt dieses Versprechens, die abstrakte und immer aufgeschobene Zukünftigkeit, wird dabei durch den Akt ebenso geschaffen wie naturalisiert. Sie bildet fortan die phantasmatische Stütze, die einen den ständigen Tausch der Gegenwart gegen abstrakte Einheiten ertragen lässt, die später mit Profit eingelöst werden können. Im neuerdings angeschlagenen hauntologischen Ton, in welchem man von dieser Zukunft spricht, in welcher man sie schon zu einem Wiedergänger macht, verrät sich in melancholischer Weise der Umbruch: Das Versprechen ist aufgekündigt worden und einer neuen Geste gewichen. Die Zukunft erscheint nicht mehr als Versprechen, sondern als Drohung. Der perlokutive Effekt des Akts der Drohung gegen die kein bedeutsamer Widerstand möglich scheint, führt in verschiedenen Graden zu zwei Reaktionen: einer Identifikation mit dem Angreifer oder dem Desertieren. Sie bringt jene hervor, die sich potentiell unendlich brauchbar und verfügbar machen, indem sie den zunehmend unklar werdenden Chiffren der Anforderungen mit einer unerschöpflichen Rekombinierbarkeit und Erweiterung ihrer Selbst und ihrer Fähigkeiten begegnen, und die in der Unmöglichkeit einer Identität von Leben und Arbeit doch nichts mehr begehren als die kontinuierliche Reversibilität beider ineinander. Aber es bringt auch jene hervor, die mit der Welt brechen, deren Untätigkeit jedoch nicht lediglich als Aufgabe verstanden werden sollte, sondern als der Versuch der Bewahrung eines minimalen Quantums an Autonomie in der radikalen Trennung von Arbeit und Leben, auch wenn diese nur erreicht werden kann, wenn man paradoxerweise beide gegen 0 streben lässt: der Silicon Valley-Selbstoptimierer und der Hikkikomori, die Paradigmen der erschöpften Gegenwart.
Und doch, so wird man sagen müssen, gerät die Drohung hier ins Stolpern, vermag sie in ihrem Zynismus gegenüber den Umständen nicht länger die stützende und verführende Funktion auszuüben, die das Versprechen noch innehatte. Diese Lücke erzeugt einen Gegenstoß, der kein Widerstand, sondern ein Entzug ist, der sich nicht gegen diese oder jene Bedingung oder Möglichkeit richtet, sondern gegen das Mögliche als Ganzes.
8// Es gibt ein Archiv an Begriffen für Erschöpfung oder diskursiv geschaffenen Erschöpfungen, die sich nicht lediglich historisch ablösen, sondern spezifisch nach sozialer Schicht, religiöser Affiliation, politischen Tendenzen oder metaphysischen Überzeugungen nebeneinander bestehen, sich abgrenzen und überschneiden, erscheinen, verschollen gehen, um an unerwarteter Stelle wieder aufzutauchen. Die Erschöpfung der Exzesse der Libertins lässt sich dabei nicht übersetzen in die desperatio der Hofmeister, die melancholia der Gelehrten, die battle fatigue der Soldaten, die Lethargie eines Oblomov oder der ennui Pascals. Und selbstverständlich ist Jeff Bezos scheinbar unendliche Erschöpfung mit allen irdischen Dingen, die ihn ins All treibt, eine andere als die seiner durch die Produktions- und Vertriebspraktiken zermürbten Angestellten. Und vielleicht gibt es überhaupt so viele Erschöpfungen, wie es Erschöpfte gibt, oder vielleicht gar so viele, wie es durch die Erschöpfung aufgezehrte Momente gibt.
Die Erschöpfung selbst exhaustiv behandeln zu wollen, – zu versuchen sich mit großer Mühe und Tatkraft nichts an ihr und über sie entgehen zu lassen – ist mehr als nur ein performativer Widerspruch. Es ist ein epistemologischer Fehler. Man geht von einem Wissen aus, dem man sich in der umkreisenden Zangenbewegung induktiver und deduktiver Verfahren abschließend nähern kann. Und sicher gibt es ein Wissen über die Phänomene der Erschöpfung, über die verschiedenen Erschöpfungen, die untersucht und festgestellt werden müssen. Und ebenso sicher ist es, dass es eigentlich nur diese Erschöpfungen gibt; konkret, inkorporiert, inkommensurabel, in Individuen, Gruppen, Gesellschaften oder Planeten. Aber man kann, wenn auch mit weniger Sicherheit, wohl sagen, dass die Erschöpfung etwas ermöglicht oder verunmöglicht, dass sie etwas tut, auch wenn sie sich als Allgemeines nicht thematisch festschreiben lässt; nicht aus akzidentiellen, sondern essentiellen Gründen. Sie ist weniger als ein Begriff, aber mehr als Nichts – eine reine Relation der Affekte, des Gedachten und des Getanen zu ihren Bedingungen. Deleuze, in einem Versuch diese absolute Erschöpfung freizulegen, trennt sie scharf von der Müdigkeit. Während letztere nur die Verwirklichung von unabhängig weiterbestehenden Möglichkeiten verhindert, so erschöpft die Erschöpfung das Mögliche als solches. Man wird einwenden, dass diese Erschöpfung, die es nicht gibt, vielleicht nur ein Artefakt einer archaischen Metaphysik ist, das in den bestimmbaren Orten und Ereignissen ihres Auftretens, die es gibt, aufgelöst werden muss. Und vermutlich hat man in einem gewissen Sinne recht mit diesem Vorwurf. Und doch ist es vielleicht das besondere Geschäft der Philosophie, dem spekulativen Interesse der Vernunft nachzugeben – losgelöst von seiner regulativen Funktion und den schmalen Sandbänken des Erfahrbaren – um etwas, und sei es nur ein Problem, zu erschaffen. Weniger als ein Objekt des Wissens, bezeichnet die Erschöpfung vielleicht eine Form des Wissens. Wenn aber die Erschöpfung nicht einfach die zeitliche Akkumulation oder logische Summierung dieser oder jener Erschöpfungen ist, man also keine schlechte Unendlichkeit der leeren Horizonte herstellen will, dann stellt sich notwendigerweise das Problem ihrer Relation, eines möglichen Übergangs oder gar ihrer Reversibilität ineinander.
9// Um die dauerhafte Beleuchtung und Nutzbarmachung Sibiriens zu gewährlisten, plante ein Raumfahrtkonsortium aus russischen und europäischen Akteuren Ende der 1990er Jahre Parabolspiegel in 1700 m Höhe an Satelliten befestigt Sonnenlicht auf das Gebiet reflektieren zu lassen und die Polarnächte zu erleuchten. Das Projekt scheiterte. Man kann diese Pläne nicht ohne die Geschichte des Einsatzes von rußfreier Gasbeleuchtung in den Fabriken des 19. Jahrhunderts betrachten. Sie hob die Arbeitszeit und die Zeit allgemein aus den Angeln, verwandelte durch die ständige Verfügbarkeit von Licht die Zeit in eine abstrakte Größe, die den Anforderungen der Produktion und den damit verbundenen Kommunikation- und Steuersystemen angepasst werden konnte und prospektiv gegen 0 ging; »die«, wie Marx es in den Grundrissen sagt, »Vernichtung des Raumes durch die Zeit.«
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Zu den räumlichen, ausgedehnten Bedingungen der Produktion, die vernichtet werden, zählt jedoch auch der organische Körper. Und so wird die Erschöpfung zur Spur eines einfachen Fakts: Der endliche, träge, unnachgiebig rhythmische und fragile menschliche Körper ist mit den unendlichen Beschleunigungen und gewaltigen Kräften der industriellen Moderne nicht restlos kompatibel. Der Traum der Hegel’schen Dialektik, einer absolut verlustfreien Bewegung des Werdens als reine Prozessualität scheitert an der Sturheit des Körpers als Fleisch. Vielleicht lässt sich hier ein Kipppunkt andeuten.
So scheint diese Unfähigkeit weiterzumachen, die Grenze des endlichen Körpers, eine Frage zu stellen: Was wäre, wenn die Schwelle zwischen dem Ende des Möglichen und das Aufgehen des Unmöglichen sich nicht klassisch als Lebendigkeit, sondern als Phlegma zeigte, ja, wenn diese Lähmung nicht nur Vorbote, sondern der Weg ist? »Faulheit«, so schreibt Cioran einmal, »ist eine physiologische Skepsis, ist das Zweifeln des Fleisches.«
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Die Erschöpften und der Tätigkeit entzogenen, um eine Idee von Lukàcs zu entstellen, haben gerade durch ihre Gespaltenheit eine besondere epistemologische Position. Sie sind gleichzeitig die handelnden Subjekte, die ihre Leben ganz selbstverantwortlich leben müssen, und zugleich sind sie das Objekt einer allumfassenden Erschöpfung, die sie nicht nur an der Umsetzung begrenzter Ziele hindert, sondern den Horizont für bedeutungsvolles Handeln ganz auslöscht. Aus der Position reiner handelnder Subjektivität, dem Aufgehen in der Erschaffung der Welt, kann strenggenommen keine Reflexion stattfinden. Erst, wenn man sich der Schöpfung enthält und nicht geboren wird, erscheint das Ganze, auch wenn es keine Totalität mehr ist und leer. Es ist ein Zurückgeworfensein auf eine Leere, die nicht Nichts ist, auf eine uneigentliche Abwesenheit. Es ist eine radikale Skepsis gegenüber dem Möglichen, welches einen einschließt, die in keiner Positivität aufgeht; eine nicht-begriffliche Negativität. Die acedia der Hildegaard von Bingens erschöpfte sich nicht in einer bloßen Trägheit, sondern war eine Müdigkeit mit der irdischen Welt selbst. Man kann hier einen distinkten Anti-existentialismus erkennen. Der Existentialismus ist, in gewisser Weise, immer eine Sache der Menschen im mittleren Alter, die zur Entscheidung und der Umsetzung ihrer Entwürfe fähig sind. Das Alter, so stellt de Beauvoir selbstreflexiv schon fest, setzt diese Verwirklichung beispielsweise radikal aus. Eine junge Frau schrieb ihr über ihren siebzigjährigen Vater: »Neulich hörte ich ihn in seinem Zimmer pfeifen, und plötzlich hielt er inne. Er hat wohl gefragt: ›Wozu?‹«
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Irgendwann hat man das Gefühl, dass es vorbei ist mit dem Möglichen.
10// Bei Nietzsche, wie bei Freud ist die Innerlichkeit das Ergebnis einer topologischen Operation, einer Rückwendung, die einen Hohlraum schafft, ausgelöst durch eine Hemmung. Im Fall der Erschöpfung gleicht diese Innerlichkeit einer Wüste. Doch die Wüste ist nicht Nichts, auch wenn die Dünen weiterziehen, sich die Landschaft beständig verändert. Vielmehr konstituiert sich mit jeder Konfiguration der Landschaft das Ganze der Bedingungen (das Transzendentale) mit, ohne je von einer gegebenen Wüsten-Landschaft erschöpft zu werden. Damit verweigert sich die Wüste der transzendentalen Illusion, die durch die retrospektive Bewegung der Wahrheit hervorgerufen wird, das heißt rückblickend die Realität eines Dinges (seinen vollständigen Begriff) als das Ergebnis eines disjunktiven Syllogismus von Möglichkeiten zu verstehen. Um noch einmal mit Deleuze‘ eingefleischten Spinozismus zu sprechen, führt die Wüste die Genese eines univoken Seins vor Augen, in dem alles was möglich ist notwendiger Weise auch real ist.
Aber damit hat sich das Problem nicht gelöst. Man kann nicht für immer durch die Wüste ziehen. Irgendwo muss man sein Lager aufschlagen. Wenn Deleuze behauptet, dass die Möglichkeit nur als Schatten der Manifestation besteht, dann entgegnet Beckett, dass die Manifestion gleichzeitig von der Möglichkeit eingenommen oder heimgesucht wird. Man kann der Schwere der Welt nicht entkommen: »Überlegen Sie doch, überlegen Sie, sie sind auf der Erde, dagegen gibt es kein Mittel«
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, sagt Hamm. Und so transponiert Beckett die »sub specie aeternitatis« Spinozas in das zeitlich-räumliche Register des Fleisches. Er demonstriert und dramatisiert das Unendliche im Endlichen, er »zeigt, ›wie es ist‹, wie man ›Inventar‹ macht, Irrtümer inbegriffen, und wie das Ich zerfällt, Gestank und Agonie inbegriffen.«
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Wir scheinen hier mit einem doppelten Problem konfrontiert, einem praktischen und ontologischen. Einerseits sind es eben jene senso-motorischen Klischees, die das Feld des Möglichen abstecken, die ebenfalls unsere Handlungsfähigkeit, die Operativität gewährleisten. Die absolute Erschöpfung schließt also notwendig eine Inorperativität oder eine senso-motorische Impotenz mit ein, die von außen von einer Unbeholfenheit, einer Immobilität oder einem Scheitern vielleicht nicht zu unterscheiden ist. Ganz im Sinne Becketts ist die Emanzipation mit dem Scheitern verwoben, und vielleicht muss man sich von Scheitern zu Scheitern bewegen. Andererseits lässt sich keine Norm aus der Erschöpfung ableiten, lässt sich aus der Ontologie keine Ethik oder Politik gewinnen, oder anders gesagt, kann man das Politische und Ethische nicht durch die Ontologie überspringen. Vielmehr scheint die Erschöpfung das Feld der Politik in neuer Weise jenseits der stützenden und leitenden Kraft des Seins zu öffnen, denn es rückt die ästhetische Aufgabe, die Dynamiken und Übergange des Begehrens zu erforschen, indem man es in affektiven Gefügen erprobt, und seine emanzipatorischen und autoritären Wirkungen kartographiert, in den Vordergrund, gerade weil keine Möglichkeit den Rahmen vorgibt. Es besteht immer die unvorhersehbare Chance, sich in der bis zum Äußersten getriebenen molekularen Bewegung des Unwahrnehmbar-Werdens in absoluter Ineffektivität zu verlieren oder von den molaren Bewegungen wieder vereinnahmt zu werden.
11// Vielleicht deutet die Erschöpfung, das Durchschreiten der inneren Wüste eine dritte Bewegung an. Gegen die Bewegung der Transformation in der Rückkehr, von der Odyssee über Hegels absoluten Geist und Heideggers Seins/Seyn (erste Bewegung), setzt Levinas die Bewegung des Exodus ohne Wiederkehr (zweite Bewegung). Aber dieser Exodus ist gleichzeitig ein Auszug ins gelobte Land, in das Andere, dass sich nicht vorhersehen lässt und doch einen ethischen (und religiösen) Appell an einen richtet, das heißt dessen Gesetz sich selbst einsetzt und doch einer Antwort bedarf. Die Erschöpfung bietet weder einen solchen Appell noch das implizite ethische Versprechen. Es wäre ein Exodus ohne gelobtes Land, ohne Horizont, an dem man die Reise ausrichten könnte (dritte Bewegung). Es hieße, weder sich die Macht anzueignen (erste Bewegung), noch sich der Macht des Anderen zu ergeben (zweite Bewegung), sondern der Macht aus dem Weg zu gehen, sie zu umschiffen.
Das ist nicht viel, aber nichts davon ist vergebens.