1. Eines der Probleme, die das Scheitern der ganzen Sache erklären, liegt sicherlich darin, dass wir uns auf einer Insel befinden, die gar keine Insel ist. Ihre Topografie ist unmöglich.
Im Rücken des Schauspielers David Thewlis liegt der australische Kontinent, eine gut viertausend Kilometer umfassende Landfläche, vor ihm der Südpazifik, eine Wasserfläche, die erst nach mehr als vierzehntausend Kilometern auf die südamerikanische Landmasse trifft. Laut Drehbuch hingegen befindet sich im Rücken der von ihm gespielten Hauptfigur Edward Douglas die vulkanische Noble’s Isle, irgendwo im Südpazifik, sieben oder acht Quadratmeilen klein. Besser bekannt ist sie als Die Insel des Dr. Moreau, wie der Roman von H. G. Wells heißt, auf dem wiederum der gleichnamige Spielfilm basiert, für den Thewlis engagiert wurde. It seemed to me, heißt es bei Wells über Noble’s Isle, then simply a low-lying patch of dim blue in the uncertain blue-grey sea. An almost vertical streak of smoke went up from it into the sky.
Die Geschichte erscheint 1896, exakt ein Jahrhundert später läuft der Hollywood-Film in den Kinos an. Der Roman ist sofort ein Erfolg und längst zum Klassiker der fantastischen Literatur geworden. Der Film hingegen ist ein großer Flop inklusive Umbesetzungen, Exzessen am Set und miserabler Einspielergebnisse, gedreht an der australischen Ostküste inmitten und nahe dem Daintree-Regenwald, das Great Barrier Reef zu Füßen.
Aber all das erklärt noch nicht, wieso diese imaginäre Insel und der Filmdreh, der sie ins Hier und Jetzt versetzt, wieso das alles auf mich eine so starke Anziehungskraft ausübt. It seemed to me: Wenn ich die Konstellation näher betrachte, scheint sich vieles miteinander zu verbinden – das insulare Szenario, die Imagination einer anderen Welt, die Natur- und Kulturgeschichte des Drehorts und die transgressive Zerstörung, die sich nicht darum schert, was wir zur Fiktion deklarieren und was zur sogenannten Wirklichkeit.
Vielleicht muss es darum gehen, ein Blau vom anderen zu trennen, den Roman vom Film, eine Geschichte von der Geschichte und die tatsächlichen Landschaften von den erfundenen, auch wenn die Zerstörung in beide Einzug gehalten hat.
2. Die Geschichte geht so: In einem von ihm verfassten Bericht legt Edward Prendick (der im Film Douglas heißt) dar, was ihm auf Noble’s Isle angeblich Unvorstellbares zugestoßen ist. Das Schiff Lady Vain stößt 1887 mit einem umhertreibenden Wrack zusammen; einige der Passagiere retten sich auf ein Beiboot und gelten bald als verschollen. Einzig Prendick überlebt. Die Mannschaft eines anderen Schiffs nimmt ihn nach Tagen des Herumdriftens und des Deliriums auf. Gemeinsam steuern sie Noble’s Isle an. Dort verbringt Prendick die folgenden elf Monate, dem Terror des Dr. Moreau und seiner kleinen kaputten Welt ausgesetzt. Am Ende verfasst Prendick den Bericht, den wir lesen. In some way, heißt es im Roman, he must have lived during the interval. Bloß wie? Und in wessen Gesellschaft?
3. Aber zunächst eine reale, wahrhaftige Geschichte, abseits der Fiktion – ein Jahrhundertsprung von 1887 nach 1770, zwei ferne Augenblicke, verbunden durch die Gefahr des Untergangs.
James Cook fährt die HMS Endeavour beinahe gegen die Wand. Der britische Seefahrer ist auf seiner ersten mehrjährigen Expedition und segelt die australische Ostküste entlang. Er weiß, wie gefährlich Route und Riffe sind, und hält wie die Hauptfigur von Wells Ausschau nach Inseln, die ihn retten können. Am 11. Juni 1770 läuft das Schiff kurz vor Mitternacht auf Grund. Es rammt ein Korallenriff und lässt sich nicht mehr manövrieren, an alarming and, I may say, terrible circumstance, that threatened immediate destruction to us.
Ich besitze weder die schiffbautechnischen noch die meeresbiologischen Kenntnisse, um zu benennen, was bei dieser Kollision alles zu Bruch gegangen ist. Es ist ebenfalls unklar, in welcher Weise das Korallenriff beschädigt wird. Der direkte Aufprall ist jedenfalls nur der Anfang. Um das Gewicht zu verringern, veranlasst Cook, dass die Mannschaft alles Mögliche über Bord wirft: Kanonen, Fässer, Öl, Krüge, verrottete Vorräte. Am Ende ist das Schiff um 40 bis 50 Tonnen Material leichter, das Korallenriff mit 40 bis 50 Tonnen Müll beschwert.
Die Kurzfassung des Fiaskos lautet: Die HMS Endeavour rammt das Endeavour Reef und rettet sich nordwärts zum Endeavour River, um dort wieder flottgemacht zu werden. Es warten schließlich unzählige weitere Landschaften darauf, während Cooks vieler Taufen den Schiffsnamen verpasst zu bekommen. I named the north point Cape Tribulation, because here began all our Troubles.
4. Damit zum dritten Schiff in Seenot, ganz in Cooks Nähe, diesmal im Spätsommer 1995. Cape Tribulation, Kap des Drangsals – der Name hält, was er verspricht.
Gleich zu Beginn der Dreharbeiten zu Die Insel des Dr. Moreau läuft alles aus dem Ruder. Because here began all our Troubles: Die meisten Szenen können nicht gedreht werden, weil Marlon Brando, der Dr. Moreau spielt, nicht anreist, erschüttert durch den Selbstmord seiner Tochter. Die Crew, die Schauspieler und Statisten können bloß warten und sich den Passagen ohne Brando widmen.
Zweieinhalb Tage wird an einer Szene gearbeitet, die nie fertiggestellt wird. Es ist die Eingangsszene, in der sich der kommende Horror ankündigt: Auf einem Frachter, der in einen Sturm geraten ist, entdeckt Edward Douglas, gerade erst gerettet, in welcher Lage er sich befindet. Bizarr entstellte Menschen lesen Tieren in Käfigen aus Shakespeares The Tempest vor: You do assist the storm.
Aber es bleibt kaum Zeit, um sich zu wundern. Das Unwetter gewinnt an Kraft, als wären Shakespeares Worte eine Beschwörung inner- und außerhalb der Fiktion. Der Dreh wird abgebrochen, weil der Sturm, den sie für die Szene brauchen, zu stark wird. Die Schauspieler werden zuerst evakuiert, anschließend die Crew. Im Schiffsinnern bleiben die Tiere zurück, darunter ein Puma und ein Orang-Utan, sowie einige wenige Verantwortliche der Produktion. Das gesamte Filmset, das an einem Strand in der Nähe aufgebaut worden war, wird durch den Sturm ins Meer gespült und geht verloren. Umfang dieser Vermüllung: k. A.
Am Ende können Tiere wie Menschen halbwegs unbeschadet von Bord gehen. Mehr als zwei Jahrhunderte nach James Cooks Desaster wird am selben Ort ein weiterer Schiffbruch gerade noch verhindert. Wahrscheinlich liegt das unveröffentlichte Filmmaterial der Frachter-Szene nach wie vor in irgendeinem Archiv der Produktionsfirma New Line Cinema. Es ist ein Gedächtnis gescheiterter Bilder: Dort heult der Wind, faucht der Puma, kippt die Aufnahme wellenwärts.
Nichts davon sehen wir. Für den jungen Regisseur Richard Stanley, der jahrelang am Drehbuch gearbeitet hatte, ist diese Episode der Anfang vom Ende. Ihm entgleitet allmählich die Kontrolle – über die Schauspieler, das Filmset, eigentlich über seine gesamte Umgebung.
5. Mit diesen Anekdoten vom Scheitern am Ende der Welt habe ich wenig zu schaffen, ob sie sich nun 1770, 1887 oder 1995 ereigneten. Es sind Enden, die ich irgendwo dort hinten verorte, weit, weit weg von mir; eine bekannte Methode, um sich das Unglück vom Leib zu halten. Es fühlt sich gut an, nicht am Rand zu stehen und keine Angst haben zu müssen, in den Abgrund zu stürzen, der sich auf der Welt auftut. Weit, weit weg, das klingt wie vor langer, langer Zeit. Es ist eine Märchenformel, mit der man sich eine grausame Geschichte vor Augen führt, ohne sie an sich heranzulassen.
You’re always fearing and fancying, sagt denn auch der Assistent von Dr. Moreau zu Edward Prendick, als sie sich auf Noble’s Isle umschauen, we’re on the edge of things. Neben mir halten gewiss viele nach Ferngelegenem Ausschau, wo sich die großen Probleme perspektivisch wie Kleinlichkeiten türmen.
Ich frage mich jedenfalls, ob mein Interesse ehrlich ist. Ob ich eine Warnung aussprechen oder Demut bezeugen will? Ob ich mich meiner Handlungsfähigkeit versichern möchte, und sei es nur im Schreiben? Oder ob das Interesse auf nichts anderem fußt als der Lust, als Zuschauer an den Katastrophen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts teilzunehmen, die sich hier entfalten, weit, weit weg und vor langer, langer Zeit?
Denn es ist ja durchaus verlockend, die Zusammenbrüche dieser Männer zu begleiten, die durch Landschaften stolpern und dabei versuchen, ihren jeweiligen Absturz als Choreografie des Wissens oder der Kunst auszugeben. Ich schaue ihnen gerne dabei zu, James Cook und Dr. Moreau und Richard Stanley, wie sie auf prächtigen Expeditionsschiffen, in chirurgischen Laboren und diesen faltbaren Regie-Stühlen mit Stofflehne sitzen und nach Atem, nach Erhabenheit ringen. Währenddessen zähle ich die Jahre, Welten und Kilometer, die zwischen ihnen und mir liegen. Es sind billige Übungen der Distanznahme, als sei all das nur ein fiktives oder historisches Späßchen.
6. Weiter im Film: Dort wird der Schiffbrüchige Edward Douglas wie erwähnt von David Thewlis gespielt. Er ist der Ersatz für Rob Morrow, der den Dreh nach wenigen Tagen fluchtartig verlässt. This is totally insane, I cannot, cannot continue, habe er seinem Agenten gesagt, I don’t know what to do.
Auf der Insel wird der Erzähler zum Entdecker wider Willen und gewinnt nach und nach Einblicke in die Machenschaften von Dr. Moreau. And suddenly the clouded horror of my mind condensed into a vivid realisation of my own danger. Der Arzt forscht daran, Tiere durch chirurgische Eingriffe an Körper und Gehirn zu höheren Wesen zu formen, bestenfalls zu neuen Menschen, die ihre animalische Herkunft hinter sich lassen. So hat sich Dr. Moreau eine obszöne Insel-Gesellschaft aus Tiermenschen herangezüchtet. Der Mensch will sich selbst weismachen, dass er der Herr über die Natur ist, dass er die Macht über Rück- und Fortschritt hat. Wer aus Tieren Menschen machen kann, kann aus Menschen Tiere machen.
7. Erstes Inventar, verfasst von James Cook während der Expedition entlang der australischen Küste: Besides the animals which I have before mentioned, called by the natives Kangooroo, here are wolves, possums, an animal like a rat, and snakes, both of the venemous and other sorts. Tame animals here are none except dogs, and of these we never saw but one, who frequently came about our tents to pick up bones, etc.
8. Zweites Inventar, verfasst von Edward Prendick während seiner Zeit auf der Insel: The two most formidable Animal Men were my Leopard-man a creature made of hyena and swine. Larger than these were the three bull-creatures who pulled the boat. Then came the silvery-hairy-man, who was also the Sayer of the Law, M’ling, and a satyr-like creature of ape and goat. There were three Swine-men and a Swine-woman, a mare-rhinoceros-creature, and several other females whose sources I did not ascertain. There were several wolf-creatures, a bear-bull, and a Saint-Bernard-man. […] but enough of this catalogue.
9. Cape Tribulation und Endeavour Reef waren zum Zeitpunkt des Filmdrehs längst nicht mehr jene Orte, auf die James Cook gut zweihundert Jahre zuvor gestoßen war. Auch hier hat die Zerstörung um sich gegriffen. In den letzten Jahrzehnten haben sich entlang der 1200 Kilometer des Great Barrier Reefs sechs weitreichende Korallenbleichen ereignet, 1998, 2002, 2006, 2016, 2017 und 2022. Kleinste Algen, sogenannte Zooxanthellen, die die Farbenpracht der Riffe ausmachen, werden von den Korallen abgestoßen. Zurück bleibt ihr weißes Grundgerüst, ihr Skelett. Die Tiere sind nicht tot, nur blank und blass. Erst wenn sie sich bräunlich oder gräulich einfärben, hat man Kadaver vor sich.
Schließlich trifft Marlon Brando doch noch in Australien ein, auch wenn er den Suizid seiner Tochter längst nicht verarbeitet hat. Er tut es den Korallen gleich: Auch seine Interpretation des Dr. Moreau ist eine eigenwillige Trauerarbeit in Weiß. Er sabotiert den Dreh, wo er nur kann. Ohne Absprache mit der Produktion färbt er sich sein Gesicht weiß ein; in den meisten Szenen trägt er ein weißes Gewand aus leichtem Leinen. Mal stülpt er sich einen schlauchigen Schal aus elastischem weißem Stoff über den Kopf, mal hängt von seinem Basthut ein weißer Schleier herab. Gottgleich auf einem Thron sitzend, so fährt Dr. Moreau in der Eröffnungsszene in einem Militärwagen vor, eingehüllt in Marlon Brandos privates Trauergewand. Schauspieler und Figur sind kaum zu unterscheiden, auch hier ist die Grenze längst überschritten. The awful white face of Moreau: Es ist der martialische Auftritt eines Verletzlichen, eines Verletzten, dessen Ende längst feststeht.
10. Das Filmset besteht aus einem Camp, das im Kolonialstil errichtet wird, irgendetwas zwischen Bungalow, Forschungsanlage und Privatgemächern. Für die Kulissen werden auch Flächen im Daintree-Regenwald gerodet, einem über 7000 Quadratkilometer großen, mindestens 145 Millionen Jahre alten Naturschutzgebiet im Staat Queensland. Damit ist dieser der älteste Regenwald der Welt, weit vor dem Amazonas, der ungefähr 40 Millionen Jahre alt ist.
Benannt ist der Daintree-Regenwald nach dem Geologen und Fotografen Richard Daintree (1832–1878). Von ihm stammen auch die ersten Fotografien der Landschaft. Sie zeigen Goldgräber vor Hütten, Flößer, die auf eine Plantage zusteuern, sowie Siedlungen, die auf gerodeten Waldflächen errichtet wurden. Die sogenannte Zivilisierung ist hundert Jahre nach Cook stark vorangeschritten. Auf seine Art war Richard Daintree ein sehr erfolgreicher Location-Scout für den Raubbau. I will endeavour – wieder dieses Wort – to give you an idea of what is going on, schreibt er 1867 an die Royal Society of New South Wales. Als Landvermesser ist er maßgeblich daran beteiligt, dass in der Region North Queensland Goldminen und Kohleflöze erschlossen werden. Seine Fotografien wirken wie visionäre Aufnahmen jener Orte, die viel später für den Dreh imaginiert werden. Es wirkt, als würden hier alle an ein und demselben Projekt arbeiten, an einer Unternehmung, bei der Wertschätzung und Wertschöpfung, Erschließung und Zerstörung im Dämmerzustand menschlichen Eifers zu Synonymen werden.
I remember the green stillness of the island, sagt Dr. Moreau, als er Edward Prendick im Roman von seinem ersten Blick auf Noble’s Isle vorschwärmt, and the empty ocean about us, as though it was yesterday. The place seemed waiting for me. Nichts hat auf euch gewartet. Nichts wird auf euch warten, weder Tiere noch Bodenschätze. Das würde man ihnen gerne sagen, Dr. Moreau und Daintree und wem auch immer, damals wie heute. Aber sie sind taub – und man selbst ist heiser.
Der Aborigine-Stamm der Kuku Yalanji ließ sich vor mehr als 9000 Jahren in bestimmten Bereichen des Regenwaldes nieder. Erst 2017 wurde ihnen das Gebiet durch einen Beschluss der Regierung formal zuerkannt. Die sogenannten Lowlands, die küstennahen Bereiche des Daintree-Regenwaldes inklusive Mangroven, haben nach Einschätzung einer Umweltorganisation bis heute ungefähr die Hälfte ihrer ursprünglichen Fläche durch Holzabbau und bauliche Maßnahmen eingebüßt. Die Fläche, die für den Dreh gerodet wurde: wieder mal k. A.
11. Drittes Inventar: Magnificent Brood Frog, Piping Nursery Frog, Northern Barred Frog, Tangerine Nursery Frog, Bloomfield Nursery Frog, Mountain-Top Nursery Frog, Northern Tinker Frog, Atherton Antechinus, Mahogany Glider, Daintree River Ringtail Possum, Lemuroid Ringtail Possum, Herbert River Ringtail Possum, Spotted-tailed Quoll, Golden Bowerbird, Atherton Scrubwren, Mountain Thornbill, Thornton Peak Skink, Bartle Frere Skink, Czechura’s Litter-Skink – ein Katalog jener Arten in Queensland, die bei einer Erderwärmung von 1 °C mehr als die Hälfte ihres Habitats verlieren werden.
12. Don’t you feel the heat as I do? Das ist einer der ersten Sätze, die Brando mit sonorer Stimme spricht. I can’t tolerate the sun and what it is doing to me and what it’s doing to all of us, to all life on earth. Immer wieder weist Brandos Moreau auf die Hitze hin, die ihm zu schaffen macht. Die Schauspieler der Beast People müssen stundenlang aufwändige Masken aus Latex tragen, die ihr Gesicht, teils ihren gesamten Körper bedecken. Selbst an Tagen, an denen der Dreh brachliegt, tragen sie ihr Outfit und warten in der brütenden Hitze auf Anweisungen, die nicht kommen, um sich schließlich zu betrinken und dabei zu kiffen.
Als die Tiermenschen auch außerhalb der Szenen allmählich abdrehen, ist der Regisseur Richard Stanley längst gefeuert und durch Hollywood-Größe John Frankenheimer ersetzt. Er soll den Film mit Disziplin und Erfahrung retten – scheitert jedoch letztlich ebenso an dieser Umgebung, die er nicht unter Kontrolle bringen kann.
Stanley soll in die USA zurückkehren. Am Gate des Flughafens taucht er nie auf. Stattdessen lebt er einige Zeit in der Nähe des Drehorts im Wald und wird durch befreundete Crew-Mitglieder aufs Set geschmuggelt. Um nicht aufzufallen, trägt er Maske Nr. 46 aus der Effektabteilung; so wird er zu einem der Dog-men der Beast People. Er ist ganz nah dran und doch weit davon entfernt, eingreifen zu können, während das Debakel des Filmdrehs sich Szene für Szene entfaltet.
13. Es gibt noch ein Schiff in Seenot: Am 18. März 1871, sechzehn Jahre vor Wells fiktiver Lady Vain, ist die ganz reale Queen of the Thames am Zug. Sie ist einen Monat zuvor in Melbourne in See gestochen und auf dem Weg nach England. An Bord sind auch Richard Daintree samt Familie. Am Kap der guten Hoffnung rammt das Schiff kurz nach Mitternacht nahe der Struys Bay ein Riff und läuft auf Grund.
Im Laderaum, eine bedeutende geologische Sammlung, die Daintree zusammengestellt hat. Sie soll als Beitrag der australischen Kolonie in London gezeigt werden. Ebenso hat er die Negative seiner Fotografien der ostaustralischen Landschaften sowie die erste detaillierte geologische Karte von Queensland bei sich. Die Sammlung geht unter, Fotografien und Karte hingegen werden gerettet – wie alle Passagiere und 106 der 110 Crew-Mitglieder. Nach einem Aufenthalt in Kapstadt setzen sie ihre Reise nach London fort.
Wieder entgehen die Bilder dem Untergang. Anders als bei Richard Stanleys Eröffnungsszene verschwinden sie nicht im Archiv, sondern geraten in Umlauf. Was richten sie an? Zu welchen Träumen und Albträumen stiften sie an, diese Panoramen von stolzen Landschaften, die angeblich nur darauf warten, erstürmt, in Besitz genommen und geschröpft zu werden?
14. Am Ende des Films kommt es zu einer Gewaltorgie, als wollte der Film alles auslöschen, seine menschlichen und tierischen Figuren, die Landschaften, in denen er spielt, die ganze grausame Geschichte, die alle dermaßen erschöpft hat. Dr. Moreaus Wohn- und Forschungskomplex wird in Brand gesteckt. Die Beast People schießen ekstatisch um sich. Sie sind zu halben Menschen geworden und müssen ihr Tagwerk vollbringen.
Fässer und Lager explodieren, und im Widerschein der Flammen, dämmrig umfangen von der Abendschwärze, wiegen sich die Palmenwedel. Der trauernde, hitzegeplagte, überambitionierte und enthemmte Moreau ist längst in einer Hängematte umgebracht worden.
Man muss genau hinsehen, um zu erkennen, was hier in Flammen steht: die Fiktion einer entlegenen Insel weit, weit weg, auf der sich die Katastrophe ereignet, die Illusion einer Distanz sowie die Lüge einer Flucht, die tatsächlich gelingen kann. Edward Prendick und Edward Douglas, deren Aufgabe im Roman wie im Film darin besteht, ein Desaster zu bezeugen, gelingt es, von ihren Inseln zu entkommen. Gut möglich, dass wir dieses Ende mitsamt den Berichten, die in seinem Nachgang entstehen, benötigen, damit klar wird, dass uns ein solches glückliches Ende nicht bevorsteht.
Denn je länger ich Richard Daintrees Fotografien und John Frankenheimers Szenen betrachte, je öfters ich James Cooks und H. G. Wells’ Texte lese, umso klarer wird mir, dass meine Übungen in Distanznahme nutzlos sind. Man steht an Ort und Stelle, das jeweilige Ende unter den Füßen, das trauerweiße Papier vor Augen, und hält Ausschau nach einer anderen Aufgabe als derjenigen des bloßen Betrachters. Then I look about me at my fellow-men, heißt es am Ende bei Wells, and I go in fear.
Gibt es eine Bilderfolge des Möglichen, in die Exzess und Ausbeutung nicht Einzug gehalten hätten, diese Zerstörung, die Noble’s Island ebenso heimsucht wie die australische Küste? Ein Szenario, eine Vision, ein Möglichkeitsraum, in dem es hätte anders kommen können? In welches dämmrige Blau müsste ich eintauchen, um dieses ganz andere Bild auszumachen?
15. Viertes Inventar: I will endeavour to give you an idea what is going on. We’re on the edge of things. This is totally insane, I cannot, cannot continue. I don’t know what to do. You do assist the storm. This was an alarming and, I may say, terrible circumstance, and threatened immediate destruction to us. And suddenly the clouded horror of my mind condensed into a vivid realisation of my own danger. Don’t you feel the heat as I do? In some way, he must have lived during the interval. But enough of this catalogue.
Kursiv gesetzte Passagen sind Zitate aus: David Gregory (2014): Lost Souls: The Doomed Journey of Richard Stanley’s Island of Dr. Moreau; John Frankenheimer (1996): The Island of Dr. Moreau; Ann Mozley (1965): Richard Daintree. First Government Geologist of Northern Queensland; H. G. Wells (1896): The Island of Dr. Moreau; James Cook (1768–1771): Captain Cook’s Journal During the First Voyage Round the World; William Shakespeare (1623): The Tempest.