Steine sind kein inerter Hintergrund des animalischen Lebens. Die Vertrautheit mit dem Material und die Herstellung von Steinwerkzeugen – Spitzen, Feuersteine, Lanzen, Beile – hat die Evolution der Gattung Homo begleitet. Nach Auffassung des Archäologen und Kognitionsforschers Lambros Malafouris muss eine »Archäologie des Geistes« beim Studium der von den ersten Menschen gebrauchten steinzeitlichen Geräte ansetzen: »Einen Stein zu ergreifen und ihn als Werkzeug zu verwenden ist eine vertraute Geste und bleibt doch terra incognita, denn bei allem analytischen Bemühen entzieht sich uns, was dieses Ergreifen für den Menschen bedeutet, und verweigert sich der Einordnung in ein lineares Evolutionsnarrativ.«
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Die Schwierigkeit, das Verhältnis zwischen Hand und Stein zu erfassen, hat nach Malafouris mit einer »vermeintlichen Scheidelinie zwischen Menschen und Dingen« zu tun. Den Subjektbegriff ausgehend von den Urszenen, sprich vom Aufeinandertreffen des prähistorischen Menschen mit der Gesteinswelt aus neu zu denken erlaubt es, die willkürliche Trennung zwischen Mensch und Umwelt zu überwinden.
Malafouris’ kognitive Archäologie gründet im Konzept der affordance, ein Neologismus, den James Gibson aufgebracht hat, um damit die Verfügbarkeit der Umwelt – Geschehnisse, Orte, natürliche Wesen – für die Verwendungszwecke des Tiers zu benennen.
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Die ersten Steinwerkzeuge sind nicht etwa passive Empfänger von Formen, die der Verstand ihnen aufzwingt, sondern sie haben mit ihren materiellen Eigenschaften – Formbarkeit, Härte, Haltbarkeit, Plastizität – die Wahrnehmung und das Denken des Menschen strukturiert. Stein hat eine lange Kette von Rückkopplungen zwischen Material und Geist – materielle Zeichen, Projektionen, körperliche Fertigkeiten – in die Wege geleitet, aus denen die psychophysiologischen Fähigkeiten des Menschen hervorgegangen sind. Der Interaktionsraum zwischen »dem Rohstoff und den sensomotorischen Eigenschaften der menschlichen Hand« ist somit eine echte »Zwischenzone, in der die Grenze zwischen Subjektivem und Objektivem, Geistigem und Physischem einbricht«. Die archaischsten Relationen zwischen Steinen und Menschen brachten eine Ökologie des Lebens hervor, in der die Menschen sich über ihr Verhältnis zur nichtmenschlichen Welt definieren.
Malafouris’ kognitive Archäologie kreist um die Ur-Beziehungen zwischen Mensch und Gestein und liefert faszinierende Impulse, um die politische Ökologie aus der Abhängigkeit vom biologischen Paradigma des Lebens herauszuholen. Gleichwohl sollte man mit dem Begriff affordance vorsichtig umgehen und das Konzept nicht verallgemeinern. Welche Rolle fällt den Erdwesen in der Archäologie des Geistes zu? Gibt es den menschlichen Geist, oder stellt die Pluralität der Seinsweisen, auf die die dekolonialen Bewegungen sich berufen, auch die Universalität der kognitiven Strukturen in Frage? Nach Gibsons Ansicht ist die Realität nicht von natürlichen Subjektivitäten bevölkert, da ein einheitliches Feld der affordance, ein gemeinsames sozioökologisches Terrain existiert: »Es gibt nur eine Welt, so vielgestaltig sie auch ist, und alle Lebewesen leben darin, auch wenn wir Menschen sie uns anverwandelt und angepasst haben […] so sind wir doch Geschöpfe der Welt, in der wir leben.« In dieser Welt greifen die Menschen in die Umwelt ein, um ihren anthropologischen Bedürfnissen Genüge zu tun: »Über Jahrtausende […] hat der Mensch den natürlichen Zusammenhang der Erde umgearbeitet. Die Beschaffenheit ihrer Oberflächen sind verändert worden, wurden behauen, entwaldet, eingeebnet, gepflastert und bebaut. […] Warum aber hat der Mensch die Formen und Substanzen seiner Umgebung abgewandelt? Um zu verändern, was sich ihm bietet. Er hat sich zuhanden gemacht, was ihm zuträglich ist, und eingedämmt, was ihm schadet. Während er sich selbst das Leben erleichterte, erschwerte er natürlich das Leben der meisten anderen Tiere. Im Lauf der Jahrtausende verbesserte er die Art und Weise, sich mit Nahrung zu versorgen, sich zu wärmen, bei Nacht sehen zu können, sich fortzubewegen und Nachkommen großzuziehen.«
Die tirakuna der Anden weisen uns dagegen, dass die Interaktionen zwischen Gesellschaft und nicht-lebendigen natürlichen Subjekten – Steinen, Bergen, Quellen, Tälern, Flüssen – verschiedene Welten untereinander in Beziehung setzen. Ihr Horizont ist keine weltumspannende Ökologie des menschlichen Geistes, weil die Erdwesen die Definition von Menschentum und Natur an sich durcheinanderbringen. Berge sind Subjekte? Steine können hören? Steinerne Gebilde haben zu einer überraschenden Vielfalt an Ritualisierungen und Symbolisierungen angeregt, gerade weil sie sich den menschlichen Planungen nicht unterordnen und über die Grenzen unseres sensorischen Apparats hinausgehen. Nicht als affordance, als Einladung zum Gebrauch werden geologische Formationen zumeist wahrgenommen, sondern als ein heteron, so der griechische Terminus zur Bezeichnung von etwas Fremdem, Außenstehenden. Sie repräsentieren ein Anderes, das durch Erfahrung untermauert ist, denn Steine dauern fort, während die Menschen nach jeder Generation von neuem verschwinden. Außerdem verdichten Gesteine Zeit in der Materie, in einer Weise, die biologischen Wesen verwehrt ist: Ihre Schichten sind ein Archiv jener Kräfte, die das Leben zersetzen und zusammensetzen.
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Das Gestein passt sich dem animalischen Leben bis zu einem gewissen Grad an, aber jenseits davon gibt es nur die schöpferische Konfrontation mit ihrer ungestalten [sic] Existenz.
Die Tatsache der Divergenz zwischen Gesteinswelt und biologischem Leben hat Anstoß zu den unterschiedlichsten Lösungen gegeben, aus denen wiederum die unterschiedlichsten Formen der Begegnung mit dem heteron hervorgegangen sind. Zum Beispiel der amorphe, ungestaltete [sic] und unbehauene Steinbrocken: Orakelsteine und Heilsteine, Dolmen, Menhire. Diese Erdwesen haben alltägliche und zeremonielle Praktiken seit dem Neolithikum begleitet. Zudem hat die Assoziation von Steinen mit geologischen Phänomenen wie Vulkan- und Erdbebentätigkeit Unterweltsmythologien genährt, in deren Kontext Steine und Felsen eine Vielzahl an Bedeutungen annahmen, die ihrerseits an rituelle Praktiken und symbolische Zusammenhänge anschließen. In der chinesischen Geomantie, in den Kare-san-sui-Gärten (»trockenen Landschaften«) im japanischen Zen-Buddhismus, in den Schöpfungserzählungen der australischen Aborigines von der sogenannten Traumzeit und in den Megalith-Kulturen in Europa werden Steine zu Protagonisten von Kosmologien und kulturellen Systemen. Auf diesen ontologischen Schauplätzen treten Steine als energetische Akteure auf, als rätselhafte Zeugen, als Spuren kosmischer Schöpfung.
Ein Fall für sich sind die Minerale. Seltenheit, Farbe, Lumineszenz und Eigenschaften von Edelsteinen und Kristallen haben ganze Abhandlungen in Gestalt der arabischen, griechischen, römischen und mittelalterlichen Lapidarien hervorgebracht. Seit antiker Zeit wird den geheimen Bedeutungen der Abweichungen, Deformationen und im Stein eingelassenen Zufallsgestalten nachgespürt, die die Gesteinsschichten der Erde sprenkeln.
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Man sieht, die Andersartigkeit der Gesteinswelt ist für die kulturelle Imagination keine unüberwindliche Schranke: die antike Überlieferung erzählt von belebten Steinen, von Wesen aus Stein, die die Fähigkeit zu Fortbewegung, Zeugung, Wachstum und Tod erlangen oder vortäuschen. Im 4. Jahrhundert vor Christus schreibt Theophrast in seinem Traktat über die Steine diesen nicht ohne eine gewisse Ironie »die allergrößte und wunderbarste Macht«
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zu und behauptet, sie könnten »Kinder gebären« und sich fortpflanzen. Der Physiologus, ein hellenistischer Text aus dem 2. Jahrhundert nach Christus, zählt unter die Subjekte nicht nur Pflanzen und Tiere, sondern auch Felsen »männlichen und weiblichen Geschlechts« sowie Steine wie den Achat, welcher, »wenn er einer Perle nahekommt, zum Stillstand kommt und sich nicht bewegt«.
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Im Volksglauben heißt es, von einem Ort weggenommene Steine könnten wieder zurückfinden, wie bei den homing stones in Irland,
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und wenn man sie eingrabe, um heidnische Riten auszurotten, wüchsen sie immer wieder nach:
»Bei einem Besuch im englischen Dorf Avebury 1885 stellte der Antiquitätenhändler William Long fest, dass die Menschen dort beharrlich glaubten, Steine würden wachsen. Wenn Steine so wie Pflanzen aus der Erde gekommen waren, dann war ihre Bestattung eine Wiedereinpflanzung, eine Wiederkehr zum Ursprungsort, so wie eine menschliche Bestattung eine Wiederkehr war: ein Ende, ein Anfang und eine Phase in einem nie abgeschlossenen Prozess.«
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Die Untersuchung derlei ritueller und symbolischer Konstellationen rund um das lithische Universum berührt die verschiedensten Bereiche, die sozialen Systeme und die Anthropologie, die Geschichte der Magie, der Weissagekunst und der Medizin, juristische und politische Rituale sowie das grenzenlose Repertoire an Versteinerungs- und Belebungsmythen. Die dritte Ökologie hat indes einen anderen Gegenstand: Sie beschäftigt sich mit den Umständen, in denen die unbelebten Wesenheiten ihre eigene Subjektivität in Szene setzen, den Menschen, manchmal auch den Göttern entgegentreten und in die gesellschaftliche Realität eingreifen. Ein Beispiel kommt aus der griechischen Antike: Es handelt sich um den omphalos (Nabel) von Delphi, den Stein, den die alten Griechen als den Mittelpunkt der Welt und als bevorzugten Ort des Austauschs zwischen Göttern und Menschen betrachteten.
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Der omphalos ist ein Bätyl, von hebräisch beth-el, Haus Gottes, die Bezeichnung für die heiligen Steine, die im Zentrum semitischer, phönizischer, griechischer und römischer Kulte im Mittelmeerraum zur Zeit der Antike standen. Diese waren oft geologische Formationen, die aus dem Rahmen fielen: erratische Blöcke, seltene Steine oder Bruchstücke von Meteoriten, wie wahrscheinlich der Schwarze Stein der Kaaba in Mekka.
In der Theogonie aus dem 7. bis 6. Jahrhundert v. Chr. setzt Hesiod den delphischen omphalos in Verbindung mit jenem Stein, den Kronos für seinen Sohn Zeus hält. Die Hesiod’sche Erzählung des Betrugs an Kronos liefert eine Blaupause für das Verständnis der politischen Natur der Steinwesen. Der Legende nach weiß Kronos, dass eines seiner Kinder ihn dereinst entthronen wird, und er sucht sich diesem Schicksal zu entziehen, indem er eines nach dem anderen verschlingt. Gaia und Uranus gelingt es jedoch, ihn zu überlisten, indem sie der Mutter Rhea dabei helfen, den Sohn gegen einen Stein im Gewand eines Kindes auszutauschen: Anstelle von Zeus frisst Kronos einen in Windeln gewickelten Felsbrocken, Zeus dagegen wächst im Versteck auf der Insel Kreta auf. Dank dieses Betrugs kann Zeus überleben und später seinen Vater Kronos vom Thron stoßen, um sein Reich auf dem Olymp zu gründen. Zeus zwingt Kronos dann, den Stein (samt seinen Brüdern und Schwestern) zu erbrechen, und legt ihn zu Füßen des Berges Parnassos ab, wo sich das Heiligtum von Delphi befindet. Der griechische Geograf Pausanias (2. Jahrhundert v. Chr.) berichtet, in Delphi würde der Stein verehrt und behandelt wie ein in Windeln gewickeltes Neugeborenes: »Jeden Tag übergießt man ihn mit Olivenöl und legt ungesponnene Wolle darum.«
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Während im in der abendländischen Kultur eingelassenen Begriff der Person – einem Erbe des römischen Rechts und der christlichen Theologie – Körper und Seele des Lebewesens nahtlos miteinander verbunden sind, offenbart die Hesiod’sche Erzählung der mythologischen Genese des omphalos von Delphi eine andere Logik, die einem anderen Verständnis vom Wesen des Subjekts entspricht. Der Stein von Delphi ist Subjekt, insofern er Betrug ist, Sakralität, Travestie, Werkzeug des politischen Streits, Vortäuschung menschlicher Gestalt. Er ist Subjekt, ohne deshalb Person zu werden. Der omphalos verbirgt seine lithische Matrix nicht: Er ist ein Substitut, ein gefälschtes Doppel des neugeborenen Zeus. Der heilige Bätyl von Delphi reproduziert eine politische Urszene, den Betrug Rheas, der über den Kannibalismus des Kronos obsiegt und ihm statt des Neugeborenen ein Felsbrocken unterschiebt. Die griechische Welt feiert somit einen Stein, der allein aufgrund des Konflikts zwischen Rhea und Kronos Menschenähnlichkeit annimmt. Die Doppelnatur des omphalos wird nicht in der Einheit einer Person verborgen und sublimiert, im Gegenteil: In seiner paradoxen Doppelheit legt er fortwährend Zeugnis ab vom Machtkampf zwischen den Titanen und Zeus, einem entscheidenden Übergangsmoment in der griechischen Mythologie. Wie die tirakuna der Anden ist auch der omphalos eine paradoxe Präsenz, der zwei unvereinbare Daseinsregimes in ihrer Gegenstrebigkeit zusammenhält: das alte Göttergeschlecht und die von Zeus eingesetzte neue Ordnung. Seine Subjektivität – die sich im Zuge eines antiken Kriegs der Welten formiert hat – trägt die Spuren einer unmöglichen Synthese, eines unaufgelösten Widerspruchs zweier Logiken.
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In seinen Betrachtungen über die großen Land-Art-Arbeiten von Donald Judd, Robert Morris, Sol Le Witt und Dan Flavin machte der Künstler Robert Smithson 1966 in diesen seltsamen, von irreduzibler, überwältigender Materialität geprägten Objekten eine bisher nicht gekannte Art von Monumentalität aus: »Sie sind nicht für alle Zeiten, sondern eher gegen die Zeiten gebaut«.
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In ihnen sei »die Zeit als Verfall oder biologische Evolution eliminiert« und werde zu einem »Ort ohne Bewegung«, zur stationären Bewegungslosigkeit. In ähnlicher Weise lässt sich die materielle Präsenz des delphischen omphalos deuten: Irgendein Stein wird zum Mitwirkenden an einem Machtwechsel, der wiederum mit einem Wandel in der Wirklichkeitswahrnehmung einhergeht. Der omphalos definiert einen Übergangsmoment, in dem die Wirklichkeit nicht mehr ist, was sie einst war, nämlich das Reich der ungeheuren Titanen, und zur anthropomorphen Welt der olympischen Götter wird. Im Stein ist die Zeit eingefroren, er ragt »gegen die Jahrhunderte« empor und konserviert in seiner Doppelheit aus steinerner Materie und kindähnlicher Anmutung die Spuren beider Wirklichkeitsordnungen.
Der Aill na Míreann im County Westmeath ist ein irischer omphalos, eine uralte Stätte druidischer Zeremonien, gebildet von einem sechs Meter hohen Findling, dessen gesellschaftliche Funktion auf die ersten Anfänge der menschlichen Besiedelung Irlands zurückgeht.
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Der Aill na Míreann hält uns vor Augen, dass erratische Gesteine singuläre Erscheinungen in ihrer Umgebung sind. Von Gletschern oder Tsunamis wurden sie weg von ihrer geologischen Heimat verfrachtet und liegen nun als Einzelgänger in Tälern, am Meeresstrand oder auf Hügeln. Auch ihre Zusammensetzung hebt sich von der Umgebung ab, in der ihre Wanderbewegung ein Ende gefunden hat. In ihrer Exzentrizität sind diese Steinblöcke Rätsel der Wahrnehmung und kulturellen Deutung, die über Jahrtausende die Produktion von Mythen, Legenden und ritueller Praktiken beflügelt haben. Auf allen Erdteilen wurden sie mit eingeritzten Petroglyphen versehen, für Fruchtbarkeitsriten benutzt, mit Ahnen und Geistern in Verbindung gebracht oder gar zum Tode verurteilt wie im Fall des Hl. Maximus, des ersten Bischofs von Turin (gest. um 420 n. Chr.), der gegen die steinernen »Altare des Teufels« wetterte.
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Bevor die Glaziologie ihre Hintergründe klärte, hatte die Einzigartigkeit der erratischen Gesteine Sintflutlehren und biblische Deutungen über den Ursprung der Erde genährt, aber auch Steinkulte, spekulative Kosmologien und archäoastronomische und geomagnetische Theorien befördert.
Erratische Gesteine veranschaulichen ein Grundprinzip der dritten Ökologie, das wir bei Rancière entlehnen können: »Ein Prozess der Subjektivierung ist ein Prozess der Des-Identifizierung.«
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Diese Felsen haben subjektive Konnotationen angenommen und sind zu Geistern, sonderbaren Geschöpfen und versteinerten Ahnen geworden, nachdem sie aus ihrem ursprünglichen geologischen Kontext verschleppt wurden. Sie bewohnen unsere historische Zeit als Reste uralter Krisen der Naturgeschichte, isolierte Bruchstücke anderer geologischer Epochen und verlorener Landschaften. Ihre Materialität erscheint als ein Relikt der Metamorphose der Erde.
Der Pierre des Marmettes ist ein 1800 Kubikmeter großer, von Beton und Weinbergen umgebener Findling im Rhonetal in den Schweizer Alpen.
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Dieses singuläre Felsgebilde befindet sich nahe dem Ort Monthey auf einer Fläche, die heute ein Krankenhausparkplatz ist. Der Stein kam vor 15.000 Jahren, also am Ende der letzten Eiszeit, nach einer dreißig Kilometer langen Reise von den Steilhängen des Mont Blanc an dieser Stelle zum Stillstand. Der Granitblock hatte sich beim Rückgang des Rhonegletschers, der vor 20.000 Jahren einen Großteil der südwestlichen Schweiz bedeckte, aus seiner Nische gelöst.
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Während andere erratische Blöcke in den Alpen mit religiösen Praktiken und archäologischen Spuren konnotiert sind, ist der Pierre des Marmettes ein imposantes, aber anonymes Erdwesen. Obendrauf steht ein verfallenes Häuschen wie zur Erinnerung an jene Zeiten, da der Stein als Beobachtungsposten diente. Weil sie in der Nähe von Städten liegen, eignen die erratischen Gesteine des Schweizer Mittellandes sich ideal als Granitquellen und wurden somit bis Ende des 19. Jahrhunderts zur Baustoffgewinnung verwendet. Auch dem Pierre des Marmettes war dieses Schicksal beschieden, was die geometrische Form dessen erklärt, was von seiner ehemals unförmigen Masse übrig ist: Eingewanderte italienische Steinmetze schlachteten ihn aus, um Material für die Säulen der Kirche von Monthey zu gewinnen.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kommt erratischen Gesteinen eine entscheidende Rolle beim Verständnis geomorphologischer Phänomene zu: Durch die Erforschung der chemischen Zusammensetzung und der geografischen Verteilung des Pierre des Marmettes und anderer erratischer Blöcke konnte Jean de Charpentier deren glazialen Ursprung nachweisen und zum ersten Mal überzeugend die Phasen der Ausbreitung und des Rückzugs der großen Alpengletscher beschreiben.
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Nachdem die Gelehrten die wissenschaftliche Bedeutung dieser seltenen geologischen Formationen anerkannt hatten,
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begannen sie sich gegen deren industrielle Ausschlachtung zu stellen und öffentlich über Petitionen und Kampagnen auf ihre Erhaltungswürdigkeit hinzuweisen. Als im Jahre 1905 der Eigentümer des Pierre des Marmettes beschloss, ihn an die Montanindustrie zu verkaufen, unternahmen die Bürger von Monthey eine gemeinsame Anstrengung mit den Geologen und der Kantonsbehörde zum Erwerb des Findlings. Ein Jahr später führte diese Mobilisierung zur Bildung der Schweizerischen Naturschutzkommission (SNK), die erste derartige Vereinigung in der Schweiz und eine der ersten in Europa.
Auch der Pierre des Marmettes verdankt seinen unverwechselbaren Charakter einer ortsfremden Herkunft und dem Verlust seiner ursprünglichen geologischen Identität. Dieser Findling ist eindeutig fehl am Platz, ein Eindringling in räumlicher wie zeitlicher, ökologischer wie ästhetischer Hinsicht. Wie zur Untermauerung seiner Singularität befindet sich oben auf dem Felsblock nicht nur ein verfallenes Häuschen, sondern auch ein kurioser Alpengarten, ein durch die kristalline Zusammensetzung des Granits hervorgerufenes Mikrohabitat. Es ist ein still ruhender Stein, der von einer Umwälzung der Ökosysteme zeugt.
Erratische Blöcke sind Fragmente einer Tiefenzeit, am Scheidepunkt inkompatibler Zeitregime gelegene geologische Körper. Von ihrer einstigen Mobilität kommt die Macht, die Gestalt der Landschaften durcheinanderzubringen und politische Grenzen zu erschüttern. Dies trifft auch für die gewaltigen Steine in der norddeutschen Tiefebene, in Brandenburg und rund um St. Petersburg zu, die aus Skandinavien kommen, von der gegenüberliegenden Küste der Ostsee und aus Finnland.
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Doreen Massey erzählt die Geschichte von »Hamburgs ältestem Einwanderer«, einem 217 Tonnen schweren Findling, der sich vor 400.000 Jahren vom heutigen Südschweden abgelöst hat und von den Gletschern an seinen jetzigen Platz in Deutschland verfrachtet wurde. Zufällig fand man ihn 1999 in fünfzehn Metern Tiefe in der Elbe, woraufhin er zum Symbol für die Rechte von Einwanderern wurde:
»Im Herbst 1999 stießen Arbeiter am Grund der Elbe, dort, wo sie sich Richtung Meer verbreitert, bei Bauarbeiten gegen einen riesigen Stein. Der bemerkenswerte Fund machte Schlagzeilen, und der Felsblock wurde zu einem beliebten Ausflugsziel der Hamburger. Doch dieser uralte Bewohner der Stadt war, wie sich herausstellte, ein Einwanderer. Es handelte sich um einen Findling, der vor Abertausenden von Jahren von Gletschermassen gen Süden geschoben worden und dort nach deren Abtauen liegengeblieben war. Er war keineswegs ein heimischer Stein.«
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Der »Alte Schwede«, wie der erratische Block von Hamburg genannt wurde, hat die gesellschaftliche Wahrnehmung des Ortes verändert: Seine gewaltige Masse ist gleichzeitig eine lokale und eine ortsfremde Erscheinung, ein angelandet von fernen Ufern angelandeter Migrant und doch fest in der Stadt verwurzelt. Damit hat er eine Kampagne für die Rechte von Immigranten inspiriert, und seine Kontur prangt auf ihren Flugblättern: als Symbol für hybride Identitäten und ihr Mosaik aus Irrungen und Stabilität, Fremdartigkeit und Vertrautheit.
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Die erratischen Blöcke führen uns zurück zur Theorie von Rancière, dem Dreh- und Angelpunkt der Interpretation der tirakuna von de la Cadena: »Die Politik ist zuerst der Konflikt über das Dasein der gemeinsamen Bühne, über das Dasein und die Eigenschaft derer, die auf ihr gegenwärtig sind«.
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Die Findlinge in den Schweizer Alpen und in der Elbe besitzen eine »natürliche« politische Subjektivität, da sie die Wahrnehmung ihrer Umgebung verändern, und sie sind nicht zu trennen von »paradoxen Bühnen«, die die Widersprüche zwischen divergierenden Zeiten, Räumen und Logiken aufzeigen. Diese vergleichsweise kleinen und säkularisierten Erdwesen sind Gegenstand geologischer Turbulenzen, Steinbruchtätigkeiten, Umweltkämpfen und Migrationspolitiken gewesen. Wiewohl sie weder über Autonomie noch Bewusstsein verfügen, wiewohl sie Spielball menschlicher und geologischer Kräfte sind, haben der Pierre de Marmettes und der Einwanderer von Hamburg ihre eigene Subjektivität behauptet: als singuläre Mikro-Ökosysteme, als Leitbilder der Wissenschaft, als Anstoßgeber für Bewegungen zum Schutz der Natur und zum Schutz der Rechte von Einwanderern
Nicht wenige zeitgenössische Kunstschaffende haben die Subjektivität der erratischen Blöcke entdeckt. Ihre Arbeiten reflektieren das unauflösliche Band zwischen diesen Steingebilden und ihrem Ursprung, das auf die Kipppunkte der Naturgeschichte weist. In seinem Buch Stein. Ökologie des Nichthumanen definiert Jeffrey Jerome Cohen diese Bedingung als »Intra-Katastrophe«: »Felsbrocken […] zeugen von den Zerstörungen ferner Zeitalter, von wiederholtem Massenaussterben. In ihnen schlummern Erzählungen von kosmischen Bränden, gewaltigen Vulkanausbrüchen, einer lebensfeindlichen Atmosphäre, einer Erde im Klammergriff des Eises, in den Fängen des Feuers und der Wassermassen plötzlicher Flutwellen.«
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Die Videoinstallation Tsunami Boulder Project (2015) des japanischen Künstlers Motoyuki Shitamichi führt uns zu den Inseln Miyako und Yaeyama, die zum Archipel der Ryūkyū-Inselgruppe im Südwesten der Provinz Okinawa gehören, wo bei massiven Tsunamis gigantische Steinblöcke vom Grund des Ozeans losgerissen wurden.
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In Schwarz-Weiß-Videoinstallationen dokumentiert Shitamichi einige beliebig herausgegriffene Stunden in dieser suggestiven Landschaft, einem Stillleben aus verirrten Gebilden, die dort fehl am Platz sind. Bewegungslos in der Bildmitte liegend, treffen die klobigen Felsblöcke auf Scharen von menschlichen und nichtmenschlichen Lebewesen: Zugvogelkolonien und Ziegenherden, Touristen, Fischer, Bauern.
Wir stehen hier den bescheidenen Protagonisten der Naturgeschichte gegenüber: geduldige, schweigende Steine, die Strände, Wälder und Felder bewohnen. Sie mischen sich unter das Meer, die Unbilden des Wetters und die Erde, deren Angesicht sie verändert haben, und werden zum Boden für tropischen Pflanzenwuchs, für Guano, Muscheln, Moos, für die Vögel und die Ziegen dieser Inseln.
Es ist eine mühsame Aufgabe für das Denken, das langsame Dasein der mineralischen Welt zu erfassen, die Auswirkungen erdgeschichtlicher Katastrophen und die Wechselbeziehungen mit dem biologischen Leben. Shitamichis Videokamera gelingt es jedoch, aus der nichtmenschlichen Perspektive der erratischen Blöcke die Koexistenz verschiedener Geschichten und Zeiten in und auf diesen geologischen Körpern zu offenbaren. Durch die unbewegte Kameraeinstellung werden die steinernen Wesen zu Subjekten von Begegnungen mit der Pflanzen- und der Meereswelt, mit Vogelschwärmen und Schulklassen. Sie gewinnen dadurch eine subjektive Konsistenz, ohne freilich eine stabile Identität zu besitzen, die von menschlichen Formen wie Handeln und Bewusstsein gewährleistet wird.
Julian Charrière ist ein französisch-schweizerischer, multimedial arbeitender Künstler, der in seiner Auseinandersetzung mit geomorphischen Kräften die natürlichen Prozesse vor überraschenden Hintergründen inszeniert. Seine Arbeiten entwickelt er an entlegenen Orten wie Vulkanen, Wüsten, eisigen Einöden, Unterwasserumgebungen und radioaktiv verseuchten Gebieten, aber auch in Museen und öffentlichen Räumen, die aus diesem Anlass zu Umwelt-Installationen umfunktioniert wurden, die wie geologische Wunderkammern wirken. Eine davon ist die Installation Not All Who Wander Arte Lost. Einige perforierte Gletscherfindlinge liegen auf ihren eigenen Bohrkernen, die durch Metalleinsätze ergänzt sind, bestehend aus Kupfer, Aluminium, Messing, Silber und Gold.
Charrière übernimmt für sich die Bergbautechnik der Kernbohrung, die sowohl in Höhlen als auch bei der Erkundung von Rohstoff-Lagerstätten eingesetzt wird. Wie sie unter den durchbohrten Felsblöcken liegen, wirken die Steinzylinder wie bizarre Förderbänder, was bei der betrachtenden Person den Eindruck erweckt, als würden die Steine sich in rollender Bewegung befinden – in einer Fortsetzung motu proprio der von den Gletschern angeschobenen Wanderung des glazialen Gesteins. Diesmal aber ist es die Intervention des Menschen, nicht die Erdgeschichte, welche die Steinmassen aufsplittert und in Bewegung setzt. Indem er mit künstlerischen Mitteln das glaziale Geschehen reproduziert, das die erratischen Blöcke aus dem Gebirgsmassiv herausbrach, überlagert Charrière geologische und technische Kausalität und verlängert die Tiefenzeit in die Gegenwart hinein. Wir werden Zeugen eines erstaunlichen Geschehens: Nach Abertausenden von Jahren haben diese Steinblöcke ihren Weg wieder aufgenommen.
Not All Who Wander Art Lost klagt mit den Perforationen auch die Zerstörung der Erdkörper an. Und doch, wie der Titel anklingen lässt, sind diese wandernden Steine nicht verloren: Sie sind nur leichter geworden. Durch die Beschichtung mit Edelmetall haben die aus dem erratischen Gestein extrahierten Zylinder neues Leben angenommen und sind zum wertvollen Bewegungswerkzeug geworden. Auch in Charrières Installation behaupten die erratischen Blöcke ihre Subjektivität: Sie bemächtigen sich der Zerstörungskräfte und erfinden die geologischen Prozesse neu, indem sie beschwingt über ihre eigenen verstümmelten Körperteile dahingleiten. Diese Arbeit ist ein Manifest der Erdwesen. In einer Zeit der Ökozide birgt die scheinbare Passivität der Steine ein Emanzipationsversprechen.
Der Genozid an den indigenen Gemeinschaften in Guatemala, der sich in sechsunddreißig Jahren Bürgerkrieg zugetragen hat, ist der historisch-existenzielle Hintergrund der Performance Piedra (2013) von Regina Galindo, einer guatemaltekischen Künstlerin und militanten Dichterin. Während der Performance ist das Publikum dazu aufgefordert, sich an der Steinwerdung von Galindos Körper zu beteiligen. Regungslos und mit Kohle überzogen, lässt Galindo über sich ergehen, wie ihre gesellschaftliche Person bis zur Unkenntlichkeit entstellt wird: »Mein Körper reglos, mit Kohle beschmiert. Zwei Freiwillige und jemand aus dem Publikum urinieren auf den Körper aus Stein.«
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Ein Gedicht von Galindo begleitet ihre Metamorphose:
»Ich bin ein Stein
Spüre die Hiebe nicht
nicht die Demütigungen
die lasziven Blicke
die anderen Leiber über meinem
den Hass.
Ich bin ein Stein
in mir
die Geschichte der Welt.«
Die Gewalt, die der Künstlerin widerfuhr, hat ihren Körper zu Stein werden lassen, die Handlungen der Freiwilligen und die Blicke der Zuschauenden haben der Künstlerin ihr Menschsein entzogen. Galindo ist jetzt ein Körper aus Stein, ein Erdwesen der dritten Ökologie. Dieses Kippen, das Versteinern des menschlichen Körpers, führt zu einem unvorhersehbaren Ausgang. Stein zu sein befreit Galindo von der kulturellen Hülle der Person und erschafft eine neue Subjektivität, eine Daseinsform, die »die Hiebe / die Demütigungen / die lasziven Blicke« nicht erfährt. Die erratischen Blöcke so wie der Steinkörper Galindos sind rundum von Kräften umgeben, die sie nicht beherrschen können, bestimmt von einer tiefen Krise der Präsenz. In ihrer Eigenschaft als Erdwesen jedoch existieren sie als Subjekte. Das ist Galindos politisches Los: die Performance Piedra hat die Subjektivität der Steinwelt bloßgelegt, hat den menschlichen Körper zum omphalos gemacht, in ein Monument, das sich der Zerstörung des Planeten widersetzt: »Ich bin ein Stein / in mir / die Geschichte der Welt.«