Sprache
Deutsch
Als die Lady Liberty vom Battery Park ablegt und Kurs nimmt auf die Insel…

Als die Lady Liberty vom Battery Park ablegt und Kurs nimmt auf die Insel, entzieht sich der Blick auf die zu Tode betrachtete Skulptur augenblicks wie durch einen plötzlich stärker gewordenen Nebel. Ihr Arm mit dem Schwert ragt nicht mehr wie neuerdings noch empor. Vielmehr ist ihre schemenhafte Gestalt über der Upper Bay von den Dünsten, die sie umwehen, nicht zu unterscheiden. „Is that really her?“, fragt ein männlich gelesener, grüner Regenponcho, von der immer mehr anschwellenden Menge der Touristen allmählich bis an das Bordgeländer geschoben. „Can she be that tiny?“ Der Poncho hält ein iPhone hoch, gen ­Nebel, und stabilisiert das Nicht-Bild mit dem Daumen. Immer wieder setzt er den Fokus ins Grau, zoomt hinein und tippt mit dem Finger auf die schwankende Fläche, die sich nicht scharf stellen lässt. Ist sie das, die vernebelte Göttin, oder bloß eine Boje im Wellentosen? Die Szene schwankt im Seegang, die Linse verwischt, von links her perlen Sturzbäche von den eisernen, weiß bemalten Bootspfosten in die Skalierung der Kamera hinein. Sind diese Fluten die letzten Ausläufer des Hurrikans Helene, der gestern noch hier durchzog, oder schon die Vorläufer des Hurrikans Milton, der erst in ein paar Tagen den Bildrahmen dieses Paradieses sprengen wird? Das Album bitte jetzt synchronisieren. Durch den gesetzten Autofokus zieht genau in Minute 3:13 ein historisches, gewaltig schwankendes Touristen-Segelschiff aus Holz, das mit seinen Masten das Nebelschwert gerade in dem Augenblick verdeckt, da der Finger siebenmal auf den roten Auslöser-Button drückt. „Over there, in the middle of this bloody mist, you can see the 1885 Schooner passing by.” Der rote Auslöser glänzt wie ein Blutstropfen im Nebelgrau, vor der möglichen Vision einer anderen Welt. Was jenseits des Rahmens liegt, geschieht jetzt: Die immer andere Hand wühlt sich aus dem Regenponcho, öffnet eine App und schickt das Bild (historischer Schooner-Segelmast vor Grauschemen) einmal über den Globus. Über, das heißt unter ihm hindurch. Denn der Schwenk folgt der Kameralinse, die zu Boden geht. Spätestens hier müsste der Blick das Präsens verlassen und mitsamt dem Tempus über Bord gehen, hineinspringen, abtauchen bis auf den Grund des ­Hudson Rivers, vorbei an versenkten Holzbooten der ­Delawaren, an Wörtern wie wipunkwe (es ist grau) und Manna­hatta (Hügelland), an Flugzeugtriebwerken, Flüchtlingswracks, ausrangierten U-Booten, Hochhaustrümmern, am Grace-Hopper-­Unterseekabel entlang und weiter bis hin zu jenen verzweigten Nervenbahnen, über die das Bild in Milli­sekunden um die Welt geschickt wird, um irgendwo jemanden zu erreichen, der auf diesem Shot genau das nicht sieht, was auf ihm zu sehen sein sollte: die sogenannte Freiheit – oder das, was von ihr übrig bleibt – bei Nebel betrachtet.
Aber wir bleiben im Bild, das Präsens heißt. Jemand hat seinen Regenschirm unten im Schiff vergessen. Wer: das erkennen wir nicht. Auch wer Wir ist, bleibt dem Bild einstweilen entzogen. Aber die Vermutung liegt nahe, dass der unsichtbare Nebelarm in der unsichtbaren Hand des Marktes eine sichtbare Entsprechung fände. Doch derweil ist die Linse wieder eingetrübt. Kein Mikrofasertuch zur Hand. Noch einmal ansetzen. Bleibendes Grau. Eine Kontur. Das da drüben könnte es sein: das Monument. Hält den Blicken stand, was sich hineindenkt, in dieses Schema von eben? Zoom einwärts. Zwei Pfeiler. Eine Träne in der Mitte. Wieder Wasser vor der Linse? Nein, es entstellt sich. Stell scharf den Blick. Wo sind wir? Standort: Tear Drop Memorial. Am Ufer drüben bei Bayonne. Ein Geschenk Russlands, To the Struggle Against World Terrorism. Die Information Tränentropfendenkmal verwischt die innere Karte indes noch weiter und schreibt sich ein ins Ortlose einer endlos gerenderten Ansicht. Standort für eine Stunde teilen? Bitte nicht. Wer hört denn dieses Bild?
Hinhören könnte helfen, um das nicht Gesehene zu beschreiben. Zu hören ist das Prasseln von Regemassen, das einem Scharren gleicht von tausend Menschenfüßen, von der ­Ferne, wie ein Hauch, das letzte Arbeiten vieler, vielleicht längst eingestellter Maschinen im Schiffsrumpf. Ja, die Lady Liberty ist noch von Motoren betrieben. Sonnenkollektoren würden auch nicht viel nutzen, bei dieser Wetterlage. Noch sind da wohl ein paar Bilder zu viel über Bord, aber die Maschinen, die jetzt die Datenströme laufen lassen und die für eine angemessene Bildbeschreibung sorgen würden, arbeiten tief unter dem Schiffsrumpf, auf dem Meeresgrund. Was jenseits des Rahmens liegt, lässt sich nurmehr als Stimmen vernehmen: „On behalf of the national park service once again welcome on board. We are now on our way to the Statue of Liberty and Liberty Island. The statue of liberty was …” Thank you. That was beautiful. Amazing. “France… to celebrate the 100th anniversary… and the friendship between…”
Weil das Hören auf den Nebel manchmal noch aussetzt, beugt sich jetzt der männlich gelesene grüne Regenponcho wieder ins Bild. Dann schiebt sich, grün in grün, ein übergrüner Strahlenkranz vor die Linse. Ist das endlich die Lady Liberty? Nein, das ist ein touristisches Give-Away aus Styropor, mit dem sich alle Touristenköpfe in Lady Liberties verwandeln können, um Teil einer sozialen Skulptur zu werden: Strahl im Strahlenkranz, abgelichtet zu Hunderten auf der fahrenden Lady Liberty (Boot) vor der Kulisse der stehenden Lady Liberty (Statue). Nur eines ist in dieser Ansicht nicht vorgesehen: Der Nebel, der die Statue, das Monument im Zentrum all dieser Duplikate, unsichtbar macht. Doch das hält die Massen nicht ab. Sie stellen sich jetzt alle vor die Reling, zücken die iPhones gen Nebel, stabilisieren das Nicht-Bild der Statue mit dem Daumen. Immer wieder setzen sie den Fokus ins Grau, zoomen hinein und tippen mit dem Finger auf die schwankende Fläche Freiheit, die sich nicht scharf stellen lässt. Verdampft im Augenblick dieses kollektiven Nicht-Mehr-Sehens alles Ständische und Stehende? Die Kamera schwenkt auf ein Armband. Dahinter ein Schild: Do NOT feed the birds. Aber es gibt keine ­Vögel. Tausende Hände halten sich am Bootsdach fest, als das Schiff heftiger schwankt. Es bleibt ungewiss und ist anhand des Bildes nicht zu ermitteln, ob sich das Schiff Lady Liberty der Statue Lady Liberty auf der Insel annähert oder immer weiter im Nebel kreist. Wer verschollen ist, kann nach einer gewissen Frist für tot erklärt werden. Manchmal scheint es durch den Nebel so, als sei dieses Schwert gar kein Schwert, sondern vielmehr ein Arm, der eine Fackel hält, die Leuchtsignale gibt. Auf dem Kopf sieben Zacken einer Krone, die durch die Schwaden stechen. Kopfbögen deuten sich an, aufsteigend von einer Schulter, die auf einem Rumpf aus Kupfer ruht, der wiederum sich abhebt von einem steinernen Sockel. Aber dann verdunkelt der Blick sich wieder. Und was die Welt erhellen soll, bleibt eine Nebelfuge. Wird die Lady ­Liberty in dieser Richtung erscheinen? Wir fahren hier bereits auf der Lady Liberty. Aber kommen wir denn niemals an bei einem Monument, das diesen Namen trägt? Die Freiheit wird nicht kommen, Freiheit wird sich rausgenommen. Weit über und unter die See ist ihre Rede vernehmbar: „Nicht wie der Koloss von Rhodos, dessen Schenkel sich von Landzunge zu Landzunge ausspannten. Behaltet, Ihr alten Länder, Euren sinnlosen Pomp für Euch. Gebt mir die ­Müden, die Armen, die ausgebeuteten Massen.“ Ich weiß nicht mehr, wie diese Nachricht ins Bild passt und wer hier beschreibt, wer hier beschrieben wird. Aber wenn dieser Nebel irgendwann aufbrechen, wenn sich hier irgendwann irgendwas lichten soll, dann müsste der Blick wohl noch einmal hinabtauchen und die Kabel kappen. Da unten, wo die Seeigel sich in einigen Augen spiegeln: „Look! There she is!“. „Dann sind Sie also jetzt frei?“ „Ja, frei bin ich“, sagt die Statue, und nichts scheint ihr wertloser. Die Menge beginnt zu jubeln. Es ist das Ende eines perfekten Tages.